"Utopismus ist mir relativ fremd"
Kultursenator Flierl war erster Gast bei "TV Real" im tazcafé. Vor Publikum gab er Einblick in das Leben eines unter Überlastung leidenden Philosophen, seine Vorstellung von Sexualität und seine Küche
Protokoll GEREON ASMUTH
Zwei Männer hinter Glas. Schwarzes Jackett, schwarze Hose, schwarze Schuhe. "TV Real" steht auf der raumtrennenden Mattscheibe. Links dahinter sitzt Thomas Flierl. Der PDS-Kultursenator ballt seine linke Faust in die Sitzfläche seine Stuhls. Er scheint ein wenig unsicher angesichts dessen, was da auf ihn zukommt. Peter Kees weiß es besser. Er hat Flierl eingeladen, zu seiner Veranstaltungsreihe "TV Real", die Kees nun erstmals im taz-Haus präsentiert.
Peter Kees: Wir machen Fernsehen ohne Übertragung und ohne Kamera. Ich will versuchen ein kleines Gespräch zu führen, um mein Gegenüber gewissermaßen zu porträtieren oder zumindest zu skizzieren. Herr Flierl, was sind die Eckpunkte Ihrer Geschichte?
Studium der Philosophie und der Ästhetik an der Humboldt-Universität mit anschließender Promotion. Mitarbeiter im DDR-Kulturministerium. Nach der Wende Leiter des Kulturamts Prenzlauer Berg. Dann Baustadtrat in Mitte. Seit vier Jahren Senator für Kultur und Wissenschaft. Thomas Flierl könnte sich an biografischen Details festhalten. Doch er nimmt Rücksicht auf sein Publikum.
Thomas Flierl: Wie soll man da einen guten Zugang finden, um nicht langweilige Biografien zu erzählen? Ich bin im Osten groß geworden, in einer Familie, die durch Ost und West zugleich geprägt war. Der eine Großvater war ein Sozialdemokrat, der in den Westen gegangen ist, weil er es in der SED nicht ausgehalten hat. Und der andere Großvater war in der KPD und ging in den Osten, weil er in der Bezirksverwaltung Schöneberg nicht länger geduldet wurde nach der Spaltung der Stadt. Man war hineingeboren in eine bereits gespaltene Gesellschaft. Insofern ist mein Glück gewesen, dass ich den Wandel erleben konnte.
Eigentlich müsste der Moderator die Themen vorgeben. Doch Flierl wechselt gekonnt vom Privaten ins Politische.
Warum?
Weil etwas Abgeschlossenes, etwas Konserviertes, etwas letztlich auch Perspektivloses zu Ende ging.
Erleben Sie die heutige Gesellschaft als frei?
Zumindest hat sie Institutionen und Formen entwickelt, die eine größere Art von Artikulation und Variantenvielfalt mit sich bringt und auch viel mehr individuelle, persönliche Freiheit. Elementar im Informationszugang, im Reisen. Den Verlust klassischer Begrenztheiten, die man im Osten hatte, erlebt man immer noch als Zugewinn.
Wenn wir uns jenseits aller Realität eine Gesellschaft ausdenken könnten, gäbe es Dinge, die Sie sich wünschen würden?
Jede Art von Utopismus ist mir relativ fremd.
Aber gibt es etwas, das Sie gerne ändern würden?
Ja, auf den unterschiedlichsten Ebenen. Man ist natürlich ständig mit konkreten Prozessen beschäftigt, findet da Problemkonstellationen und möchte da eingreifen.
Sind sie Rationalist?
Nö. Viele Dinge laufen auch so, dass ich mich ästhetisch faszinieren lasse, dass mir die Leute sympathisch sind, dass die Konstellationen gut sind, dass die Stimmung gut ist, dass da auch eine Energie zu spüren ist, die sinnvoll freizusetzen wäre.
Kees lächelt. Flierl lächelt zurück. Die Konstellation ist gut. Die Stimmung auch. Kees rückt ein wenig näher.
Wovon träumen sie tagsüber?
Eigentlich nur, mehr Zeit zu haben. Der Zeitplan ist so eng, dass man mitunter vergisst, was der nächste Termin ist. Dieser Verlust an Orientierung, das ist eigentlich am schlimmsten. Und das setzt dann auch Wünsche frei. Also, einen Kurzschlaf zu machen, zum Beispiel, eine halbe Stunde.
Heißt das auch, dass man überfordert ist?
Der Beruf des Politikers ist sozusagen die Institutionalisierung der Permanenz von struktureller Überforderung.
Macht man da auch Fehler?
Ja, natürlich.
Was für Fehler haben Sie gemacht?
Niemand spricht gern über eigene Fehler, erst recht nicht vor Publikum, schon gar nicht als Politiker. Flierl verzögert die Antwort. Dann findet er sie, indem er das Wort "ich" vermeidet und für eine scheinbare Allgemeinheit formuliert.
Man macht Fehler, wenn man wegen der angespannten Situation einen zu großen Kontrollzwang hat. Man vertraut zu wenig anderen Leuten. Die Frage ist, wie man unter solchen sehr angespannten und schwierigen Bedingungen stabile, gute, entlastete und auch krisenfeste, konfliktfähige Beziehungen im unmittelbaren Umfeld haben kann.
Privat oder beruflich?
Beides.
Peter Kees rückt auf seinem Stuhl leicht nach vorn. Fast hat man den Eindruck, er würde dem Senator als Nächstes seine Hand auf das Knie legen.
Näher werden sich die beiden im Laufe des Abends nicht mehr kommen. Zumindest räumlich nicht.
Wird man einsam, wenn man so weit oben ist?
Flierl rollt auf seinem Stuhl zurück.
Ich weiß gar nicht, ob das oben ist. Diese Höhe erlebe ich so nicht. Ich erlebe das eher als eine sehr große Intensität einer Anforderung, die Komplexität der Dinge, die man bedenken sollte, ist sehr groß.
Haben Sie bisher so gelebt, wie Sie wollen?
Was ist der Wille, dem man da folgen wollte? Man setzt sich Gegenständen, Aufgaben, Konstellation aus, und dann ist man weitestgehend auch diesem Gegenstand und der Konstellation verhaftet. Ich habe mich immer sehr intensiv in Dinge hineinbegeben, sie dann zu meiner eigenen Sache gemacht. Und das hatte dann mitunter den Fehler, sehr arbeitszentriert gewesen zu sein, sehr projektbezogen. Der reine Wille hat da nie geherrscht.
Peter Kees gibt auf. Er wolle seinen Gesprächspartner "knacken", seine Widersprüche, tiefer liegende Wünsche und Ängste zumindest streifen, hatte er im Vorfeld angekündigt. Doch der reine Wille des Moderators reicht an dieser Stelle nicht aus.
Okay, ich lasse das jetzt mal so stehen und springe zu einem anderen Thema.
Was bedeutet der Tod für Sie?
Er ist sehr präsent. Wenn ich demnächst 50 bin, werde ich doppelt so alt sein wie meine Mutter, die bei meiner Geburt starb. Dieses Suchen im Angesicht von Nichtverfügbarkeit von Menschen und damit das Erleben der eigenen Endlichkeit, das ist schon ein Motiv, was immer wieder eine Rolle spielt.
Haben Sie Angst vorm Tod?
Ne!
Warum nicht?
Weil ich mich vielleicht auf subtile Weise damit schon auseinander gesetzt habe.
Und wieder gelingt es Flierl ganz ungefragt vom Privaten ins Politische zu wechseln, sein offensichtliches Lieblingsthema einzuflechten. Die Worte sprudeln förmlich aus ihm heraus, seine Sätze klingen, als seien sie schon hundertmal durchdacht. Die linke Hand fliegt wild gestikulierend durch die Luft.
Eines der mich am meisten interessierenden Themen hier in dieser Stadt ist, wie mit Geschichte umgegangen wird. Mich interessiert die reflektierte Form des Umgangs mit der Geschichte. Nehmen Sie zum Beispiel diesen Sockel des Karl-Liebknecht-Denkmals am Potsdamer Platz. Ein Stein, der von der DDR da 1951 hingestellt wurde in Erwartung eines richtigen Standbilds. 1961 in den Mauerbau geraten, jahrzehntelang im Niemandsland, schließlich das Abräumen mit der Bebauung des Potsdamer Platzes und jetzt nach Antrag der Bezirksverordnetenversammlung Mitte das Wiederaufstellen. Er erinnert übrigens an eine Anti-Kriegs-Demonstration Liebknechts vor dem Potsdamer Bahnhof 1916. Die CDU empört sich, dass schon wieder Liebknecht-Denkmäler aufgestellt werden, und die radikale Linke sagt, ja wo ist denn nun Liebknecht? Dabei ist der leere Sockel das Thema. Die verschiedenen Zeitschichten, die man erklären muss. Das interessiert mich.
Wie sehen Sie heute den Potsdamer Platz? Ist das nicht ein Zeichen für die Einvernahme durch das Kapital?
Dass wir in einer kapitaldominierten, bürgerlichen Gesellschaft leben, in der sich die gesellschaftlich herrschenden Mächte in der Mitte der Stadt inszenieren und damit Stadt bilden, das ist völlig klar. Das Problem ist das Verschwinden des öffentlichen Raums. Dagegen muss man Strategien entwickeln. Zum Beispiel können Kunst oder Denkzeichen, die an Geschichte im öffentlichen Raum erinnern, diesen Raum neu bestimmen.
Unmittelbar hinter Flierl, im öffentlichen Raum hinter den hohen Scheiben des Cafés, verabschiedet sich küssend ein Paar. Und Kees wagt den nächsten Themensprung.
Haben Sie eigentlich alle Ihre sexuellen Fantasien ausgelebt?
Ein Raunen geht durch den Saal. Darf man so etwas fragen? Muss man so etwas fragen? Einen Senator? Niemand klappert mehr mit dem Geschirr. Flierl lacht fast schelmisch mit den Augen. Er spielt mit. Er antwortet.
Nö!
Ist das eine zu intime Frage?
Es ist eine ungewöhnliche Frage, aber ich hab sie zugelassen …
… aber nicht wirklich beantwortet.
Stimmt. Aber ich hab auch nicht hinreichend drüber nachgedacht.
Ein paar Sekunden lang holt Flierl dieses Nachdenken nach. Das Publikum kichert unsicher.
Man müsste zum Beispiel mehr Zeit haben.
Wir haben Zeit.
Ne, nicht um drüber zu reden, sondern es zu tun. Das ist auch ein echtes strukturelles Problem von Politikern …
… dass sie zu wenig Sexualität haben?
Einige Zuschauer prusten fast in Erwartung schmieriger Zoten. Doch Flierl vermeidet jede Blöße und antwortet in seiner analytischen Sprache.
Es ist zumindest so, dass man in der Tat Formen von einfacher Reproduktion schwer hinbekommt. Das ist auch ein Stück unmenschliches Leben. Ich glaube aber nicht, dass es um das Zuwenig geht, sondern dass es um die Form geht, es sinnvoll in einen sozialen Zusammenhang einzuordnen.
Das habe ich jetzt nicht verstanden.
In gewisser Weise hänge ich tatsächlich der romantischen Vorstellung an, dass Sexualität was mit …
Der Kultursenator zögert. Er sucht nach dem passenden Wort. "Liebe", flüstert fast sehnsuchtsvoll eine weibliche Stimme im Publikum. "Ja", wird Flierl später, nach dem Ende der Sendung, sagen und sich dabei die nun wild abstehenden Haare raufen, "ja, das lag mir auch auf der Zunge, aber es wollte einfach nicht raus."
… dass Sexualität was mit sozialer Beziehung zu tun hat. Und dass das in einer Form abgehen sollte, die von allen Beteiligten gewollt ist und als Teil ihres Lebens auch gestaltet werden sollte.
Wie leben Sie eigentlich?
Ich wohne in einer Zweizimmerwohnung in Prenzlauer Berg, seit ich mich von meiner Partnerin, meiner langjährigen Lebensgefährtin, getrennt habe.
Wie sieht Ihre Küche aus?
Flierl lehnt sich wortlos zurück. Man sieht ihm förmlich an, wie er vor dem inneren Auge diesen Raum, seine Küche, abscannt.
Stark improvisiert. Weil ich seit einem Jahr allein lebe, stehen da eine noch nicht angeschlossene Spülmaschine und ein leerer Kühlschrank. Das ist eher eine Addition von Einzelobjekten.
Das Publikum raunt bedauernd. Jetzt endlich wird Flierl verstanden. Eine Addition historischer und persönlicher Brüche. Die verschiedenen Zeitschichten, die erklärt werden müssen. Und der leere Sockel. Nur eine Frage bleibt, sie wird Peter Kees per SMS aus dem Publikum geschickt.
Wären Sie gern temperamentvoller?
Ja …
Flierl hält inne.
… vielleicht, und …
Diese Frage bringt ihn beinahe doch noch aus dem Konzept.
… ich glaube auch …
Dann bekommt er doch noch die Kurve.
… ne, eigentlich nicht. Ich glaube eher, dass ich an den Punkten, die mich wirklich interessieren und packen, ziemlich Leidenschaft entwickeln kann.
Okay, ich will das jetzt mal so stehen lassen.
Peter Kees sagt noch einmal seinen Lieblingssatz. Hinter der Mattscheibe verbleiben zwei leere Stühle, etwa einen Meter weiter links als zu Beginn des Gesprächs.
taz Berlin lokal Nr. 7927 vom 21.3.2006, Seite 24, 397 Interview GEREON ASMUTH
TV REAL
Öffentliches Ersatzfernsehen